Grenzen der Vergänglichkeit: Reflexionen über Zorn und Vergänglichkeit, ein Essay zu Psalm 90
---
Ich erinnere mich noch daran, als wir uns mit einigen Leuten des Galerieteams und Peter Ortner, dem Fotografen dieser 40 Arbeiten, getroffen hatten und überlegten, welches Grundgefühl dieser Ausstellung innewohnen könnte.
Schon beim ersten Anblick der Arbeiten, die eine Dokumentation von Jahrtausenden europäischer Grenzen, Grenzauflösungen und Grenzverschiebungen erzählen, schoss es mir blitzartig in den Kopf: Es ist das Gefühl der Vergänglichkeit.
Und ja, in der Tat, wenn man alle Grenzen, die es jemals in der europäischen Geschichte gegeben hat, grafisch übereinanderlegt, so entsteht eine einzige Fläche. Alles war schon mal Grenze oder Grenzgebiet.
Stellen wir uns einmal vor, Gott hätte all dies mitbekommen – ich versuche mich in Gottes Perspektive zu versetzen – und frage mich, ob das vielleicht eine Blasphemie ist oder ob es in Ordnung geht. Manchmal wünschte ich, ich könnte in Gottes Gedankenwelt eintauchen – was muss Gott nach Jahrtausenden der Erfahrung über unsere oft so kleinlichen Diskussionen denken?
Jeder Ort in Europa war irgendwann einmal Grenzgebiet, und wenn es eine Stadt gibt, die in der modernen Geschichte besonders davon erzählen kann, dann sind wir gerade in ihr. Welche Farbe würdest du diesem Ort zuordnen? Für mich wäre es kein sanfter, cremig-pastelliger Ton. Stattdessen denke ich an ein bedrohliches Rot, das an das unzählige vergossene Blut im Kampf um diese Grenzen erinnert.
Auch in der Spätmoderne sind wir den Stellungskriegen um Grenzen nicht entkommen – im Gegenteil, sie haben sich uns genähert. Irgendwie muss ich das aushalten: Während Elon Musk eine neue Welt auf dem Mars errichten will, tobt nebenan ein zermürbender Stellungskrieg in der Ukraine. Ich fühle mich dieser absurden Realität so ohnmächtig und zornig ausgeliefert.
Ich fühle mich als Gefangener meiner eigenen Grenzen, eigener Grenzen des Verstandes und meiner Gefühle – ich fühle mich der Vergänglichkeit ausgesetzt.
Ist das Leben also eine Sisyphos-Arbeit – ein endloses Bemühen, einen Stein den Berg hochzurollen, der ohnehin wieder herunterfällt und mich dabei vielleicht noch platt macht?
Irgendwie ist das alles kein Thema für einen Brunchgottesdienst an einem sonnigen Junitag.
Wenn ich mich und die Menschen beobachte, stelle ich fest, dass so etwas wie Atheismus gar nicht existiert. Versuchen wir nicht alle, unserer empfundenen Vergänglichkeit Abhilfe zu verschaffen, indem wir mit unseren Schmerzen von einem ins nächste Glaubenssystem wechseln?
Wie gehst du mit Vergänglichkeit um?
Das Leiden in der Welt kann nicht unbewusst gemacht werden. Es kann nicht länger auf andere abgeschoben werden. Damit wird es nur immer größer. Es muss getragen werden, soll es überwunden werden. Darum, so scheint mir, sind die Leidenden in dieser Welt die wahren Menschen, schreibt der Theologe Jürgen Moltmann.
Diese Aussage impliziert zum einen, wie ich meine, dass wir dem Leiden der Vergänglichkeit nicht entfliehen können, und zum anderen, dass das Leid getragen werden muss, um überwunden zu werden.
Sich der Vergänglichkeit auszusetzen bedeutet, den empfundenen Zorn, der über dem Leben schwebt, nicht zu ignorieren. Dass ich in mir Zorn spüre, ist doch der Beweis dafür, dass Zorn existiert – dass Zorn etwas immanent Menschliches darstellt. Er ist wie eine unsichtbare Wolke, die unabhängig von Landesgrenzen in unseren Köpfen, Gedanken und Gefühlen schwebt.
In diesem Psalm wird das Wort Zorn viermal im Zusammenhang mit Gott erwähnt:
„Das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. 7 Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.“
Kaum höre ich heutzutage jemanden über den Zorn Gottes sprechen. Wenn es überhaupt thematisiert wird, dann oft von Fundamentalisten in robotischen, dualismus-aufmachenden Floskeln, wie beispielsweise: Gott ist nicht nur Liebe, er muss auch Gerechtigkeit sein – was eigentlich hier mit der Floskel gemeint ist: Gott ist mächtig zornig und muss jetzt auch mal die Liebe ein wenig wegdrücken ...
Meiner theologischen Analyse nach sind solche fundamentalistischen Aussprüche zu lasch, weil sie bloß auf die moralische Kategorie von Zorn abzielen - in ihnen ist nicht wirklich die tiefe Konfrontation mit der Verletzbarkeit angelegt - und so kann eine solche Logik nie zu einer tiefgreifenden Gnade, von der Kirche doch immer spricht, führen.
Ich fürchte, das hilft mir nicht weiter.
Ich entdecke in mir Zorn, wenn die Vergänglichkeit meinen Hoffnungshaushalt übertönt. Treffender kann dieses Lebensgefühl nicht ausgedrückt werden, als durch Salomo im Buch Prediger, Kapitel 2, 17 und 18:
„Da hasste ich das Leben, denn das Tun, das unter der Sonne getan wird, war mir zuwider. Denn alles ist Nichtigkeit und ein Haschen nach Wind. 18 Und ich hasste all mein Mühen, mit dem ich mich abmühte unter der Sonne. Ich muss es ja doch dem Menschen hinterlassen, der nach mir sein wird.“
Mich meiner Vergänglichkeit zu stellen, heißt auch, dass ich mich mit meinem Zorn und meinen davon getragenen Wunden beschäftige.
Es ist wie bei so vielen Begriffen, die wir, so scheint es mir, negativ konnotieren, weil sie in unserem menschlichen Bestreben nach heilvollem Glück kategorisch umgedeutet werden. So ist beispielsweise der Begriff "Krise" etwas, was es zu vermeiden gilt, obwohl es wörtlich „eine neue Wende“ meint und daher im Prinzip das Gegenteil des landläufigen Gefühls eines Fehlers darstellt – Krise ist ein zukunftsoffener Begriff, die Ermöglichung, dem erlebten Schmerz eine neue Chance zu geben. Ist das nicht die ureigenste christliche Dynamik: Tod – Auferstehung. Sterben, wieder aufstehen ...
Wir dürfen uns eingeladen fühlen, in diesen Prozess zu gehen. Ich merke, dass es Stationen in meinem Leben gab, wo ich dafür noch nicht bereit war, weil der Zorn so tief in mir drin war. Und hier ist es auch so – Zorn ist, so meine ich, auch ein Wort, das wir sehr eingegrenzt definiert haben.
Nur hier ist es markanter. Das Wort klingt so harsch. Zorn. Erst recht, wenn ich mein hessisches R darin einbringe: Zorn! Ich meine, wir sehen diese Begriffe nur allzu menschlich, ja zu begrenzt.
Auch hier bin ich allzu oft versucht, eine anthropomorphe Übertragung meiner Erfahrungen und Lebensbilder auf Gott vorzunehmen – im Sinne von: Was ich in meinem Leben und in den Medien mit Zorn verbinde, ist etwas zutiefst Niederschmetterndes, und so muss der zornige Gott wohl auch sein. Meist erlebe ich Zorn in seiner Umsetzung als impulsiv und unreflektiert – mit Zorn wurde ich geschlagen, weil ich als Schüler rote Haare hatte – mit Zorn entsteht jede Phobie, mit Zorn entstehen Kriege um Grenzen ...
Ich möchte der Versuchung widerstehen, die Vorstellungen und Erfahrungen, die ich durch den Zorn gemacht habe, auf Gott zu übertragen und in die heiligen alten Texte dieses Psalms hineinzulesen.
Gottes Zorn spielt nicht in den von uns definierten moralischen Kategorien – das wäre zu oberflächlich – Gottes Zorn geht in eine tiefere Dimension unseres Lebensgefühls – für Moltmann gehört der Begriff in die Kategorie des göttlichen Pathos. Gottes Zorn ist verletzte Liebe – die Liebe ist der Möglichkeitsgrund für den Zorn. Und sowieso ist das Gegenteil von Liebe ja nicht Zorn, sondern ignorante Gleichgültigkeit. Nichts ist schlimmer, als ignoriert zu werden und damit begrenzt zu sein.
Weiter schreibt Moltmann, Indifferenz gegenüber Recht und Unrecht sei ein Rückzug Gottes aus seiner Verbindung mit uns Menschen. Sein Zorn aber ist Ausdruck seines bleibenden Interesses am Menschen. Als verletzte Liebe ist der Zorn Gottes nicht zuerst ein Zufügen, sondern ein göttliches Erleiden von Übel. Er ist ein Schmerz, der durch sein offenbartes Herz geht.
Gott selbst setzt sich in Jesus – The Human Face of the Living God – dieser Vergänglichkeit in der ganzen Fülle aus – und wird ganz leer – an sich selbst. Man könnte sagen, dass Gott seine eigentliche Identität gänzlich am Kreuz verliert. Gott wird selbst zum Hoffnungslosen, der in seiner Vergänglichkeit dahin stirbt – niemand hat die Leere des nihilistischen, materiellen Atheismus mehr gespürt als Gott selbst. Niemand hat mehr Vergänglichkeit gefühlt, entgrenztes Unrecht erlebt als Gott selbst.
Ständig beobachte ich mich, wie ich Grenzen um mich herum baue, weil ich denke, dass ich damit meine Identität schützen könnte. Dabei merke ich nicht, dass ich mich in mein eigenes scheinheiliges Schutzsystem eingekerkert habe. An dieser Stelle helfen hier keine moralischen Kategorien von Zorn – sie würden nicht tief genug in meinen erlebten Schmerz gehen.
Durch die Angst, meine Identität zu verlieren, kapsele ich mich lieber ab und verlege
das wahre Paradies ins Jenseits. Wie auch immer ich diese Betäubung nenne. Das hat die Kirche auch schon immer mitgemacht und in manchen Jahrhunderten damit ganz gut Geld verdient. Darf ich sagen, dass das falsch verstandener Zorn ist? Dass es ein hoffnungsloser Umgang mit der Vergänglichkeit und unseren Grenzen ist?
Sylt, um kurz einen Satz zu verlieren, ist auch ein Hinweis darauf, dass der Mensch seine eigene Verletzlichkeit nicht gerne akzeptiert. Roboterhaft müssen Grenzen gezogen werden, weil die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst auf Verlustangst stoßen würde. Wer sich mit seiner eigenen Verletzbarkeit nicht beschäftigt, wird folgendermaßen diese Verletzbarkeit an andere auslassen und andere für schuldig erklären, für den Dreck, den man selbst vor seiner Haustür nicht gekehrt hat. Dieser noch immer der ausgelieferten Vergänglichkeit zornige Mensch wird irgendwann „Ausländer raus“ brüllen.
Die Lösung wäre, mit sich selbst zornig zu werden.
Vergessen wir nicht, wenn wir etwas von Gott wissen können, dann in The Human Face of God, Jesus Christ – der selbst seine Identität in der Flucht begründet. Jesus wird als Flüchtling geboren und stirbt als nie angekommener Messias. Man könnte sagen, Jesus ist der Entgrenzte – und so langsam beginne ich zu verstehen, was die ganzen Predigerinnen und Prediger immer damit meinen, wenn sie von der grenzenlosen Liebe Gottes sprechen.
Es gibt keine schönere Einladung dieser grenzenlosen Liebe Gottes, als über seine eigenen Fehler zu lachen und einen bewusst-reflektierten Zorn über sie zu hegen – zu akzeptieren, dass man vergänglich ist und dieses Gefühl in die Hände Gottes legen zu dürfen.
Vielleicht ist jetzt verständlich, warum wir an einem schönen Sonntagvormittag im Juni bei einem Brunch den Gedanken brauchen: Erst in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, des eigenen Auf-der-Flucht-Seins, entdecke ich meine eigene Verletzbarkeit und die Bedürftigkeit nach Gnade – und das ist so kostbar, an diesem Punkt anzukommen.
Aufgrund unserer bewussten Wahrnehmung der Endlichkeit und Vergänglichkeit können wir erahnen, dass Ewigkeit existiert. Für diejenigen unter euch, die gelegentlich von der Vorstellung der Ewigkeit überwältigt werden, weil sie so absolut erscheint, möchte ich sagen: Ewigkeit bedeutet nicht die Auslöschung der Zeit, sondern vielmehr die harmonische Verschmelzung aller Zeiten zu einer schöpferischen Einheit.
Es bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, heißt es im weltberühmten 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs – könnte man Ewigkeit schöner definieren?
Eine wirkliche Antwort, so schreibt Paul Tillich am Ende seiner Analyse zum 90. Psalm, finden wir, wenn wir die Vergänglichkeit ständig im Lichte unserer menschlichen Situation verstehen, in der Tragik und Hoffnung ohne Sieg miteinander kämpfen. Der Sieg kommt von dem, was jenseits dieses Kampfes liegt. Der Sieg kam, als das Gebet des Psalmisten beantwortet wurde: „Erbarme Dich, o Herr!“
Dieses Gebet ist das Gebet der Menschheit über alle Zeitalter hinweg, und es ist das heimliche Gebet in der Tiefe einer jeden menschlichen Seele.