Die Umarmung der Hässlichkeit: Ein neuer Blick auf Schönheit und ihre rettende Kraft
Wenn Schönheit uns retten soll, dann müssten wir uns darüber verständigen, was Schönheit ist. Schönheit ist allerdings ein, wie ich es nennen würde, biografischer Containerbegriff - Will meinen, dass wir all unsere eigenen Erfahrungen und Prägungen, Ansichten und Wünsche in diesen Begriff legen und somit zu sehr vielen verschiedenen Perspektiven kommen. Unser Verständnis von Schönheit ist aus vielen Schichten zusammengesetzt - Was in der Weltperiode für schön galt, wurde in der nächsten wieder verworfen. Was in der Kultur als schön gilt, wäre eine Hässlichkeit in der anderen. Kann man sich vorstellen, dass in einer gewissen Zeitspanne des 19. Jh. einmal die Bilder von Claude Monet als hässlich galten?
Oberflächlich betrachtet könnten wir nun meinen, Schönheit sei subjektiv - allerdings, so meine ich, ist das ein Einbahnstraßenargument, wenn man peinlichen Situationen ausweichen möchte. Etwa dann, wenn uns ein Kunstwerk präsentiert wird, das wir absolut nicht schön finden, bekommt es bei guter Verfassung das Label: interessant. Es muss dir ja gefallen.
Nein, Schönheit ist facettenreich und die Sicht dessen, was das ist, ändert sich und doch gibt es Parameter für Schönheit, wenn es um Normen geht. Es gibt Normen, die ein Großteil der Menschen in einer Zeitepoche schön findet - Der goldene Schnitt, eine bestimmte Körperform, hohe Wangenknochen, bestimmte Farben. Kombination, allerdings, an dieser Stelle frage ich mich, ob es mehr Sehnsucht nach Harmonie ist. Nun, Schönheit ist oft definiert als eine bestimmte Norm, die uns vorgegeben wird. Daher ist das, was uns vertraut ist, meist auch schöner, als das, was uns fremd erscheint - das, was aus unserer Sicht aus der Norm fällt, an das müssten wir uns erst gewöhnen. Wir können es nicht einordnen, kontrollieren. Was aus der Norm fällt, ignorieren wir gerne in den Mülleimer der Hässlichkeit hinein.
An dieser Stelle, so scheint es mir, möchte ich dem Begriff der Schönheit über sein scheinbares Gegenteil näherkommen - Der Hässlichkeit.
In der deutschen Sprache verrät sich dieses Wort selbst - Der Hässlichkeit geht der Hass voraus. Moshtari Hilal schreibt in "Hässlichkeit":
"Es gibt die Hässlichen nicht, weil sie hässlich sind, sondern weil sie Hässlichkeit durchleben. Hässlichkeit in diesem Sinne ist die auf Hass begründete Ausgrenzung, die als Wertung und Verhalten durch andere erlebt wird. Sie ist die Summe aller Effekte der Ablehnung durch unsere Sinne, aber vor allem durch das Sehen: Wir erleben sie im eigenen Selbstbild, aber auch in den Blicken der Anderen, in unseren Blicken auf Andere."
Persönlich beschreibt sie, wie sie als Jugendliche mit ihrer großen Nase gehadert hat. Während ihre Schwester sich einer Schönheits-OP unterzog, entschloss sie sich, ihre Nase zu akzeptieren, weil sie für sich gelernt hatte, sich nicht durch den Blick der Anderen zu sehen.
Durch welchen Blick sehe ich in die Welt? Byung-Chul Han schreibt in 'Die Austreibung des Anderen':"Der andere kündigt sich auch für Satre als Blick an. Satre beschränkt den Blick nicht auf das menschliche Auge. Angeblickt werden bildet vielmehr den zentralen Aspekt des in der Welt-Seins. Welt ist Blick. Selbst das Rascheln von Zweigen, ein halb offen stehendes Fenster oder auch eine leichte Bewegung des Vorhangs werden als Blick wahrgenommen. Heute ist die Welt sehr arm an Blicken. Wir fühlen uns selten angeblickt oder einem Blick ausgesetzt. Die Welt präsentiert sich als Augenweide, die uns zu gefallen sucht."
Warum sollte man etwas an sich ändern, nur um einem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen? Aus ökonomischen Gründen würde eine Schönheits-OP hingegen Sinn machen, denn zahlreiche Studien belegen, dass Menschen nach dem Schönheitsideal schön sind, in allen Bezügen des Lebens Vorteile genießen - So bekommen "schöne Menschen" sogar einfacher einen Kredit, obwohl die Studie ebenso belegt, dass eben jene schönen Menschen diesen Kredit schlechter zurückzahlen.
Unserem Blick für Schönheit und Hässlichkeit wohnt also ein irrationales Moment inne.
Es ist eben so mit einem Kunstwerk, wenn wir es anblicken, lernen wir viel mehr, wie wir die Dinge empfinden. Das ist die Macht der Kunst, sie spiegelt uns, zeigt uns, wie wir blicken, welche Brille wir aufsetzen, ja, wie wir die Welt betrachten. An dieser Stelle ist der Begriff der Erhabenheit möglicherweise eine Ergänzung zum Begriff der Schönheit. Das Kunstwerk ist stärker als wir, das Kunstwerk überlebt den Künstler - das Kunstwerk zeigt uns, wo unsere Grenzen liegen, Grenzen unseres Blicks, Grenzen unseres Handelns, Grenzen unseres Verstandes.
Die Kunst verlangt von uns Menschen nicht, dass wir sie mögen. Entweder ergreifen uns Kunstwerke oder eben nicht. Darin liegt die Macht der Kunst. Wir könnten davon lernen, einen Blick zu entwickeln, wo uns der andere Mensch wieder ergreift, uns angeht, das Leiden, Tränen und das Lächeln. Schönheit ist also ein Beziehungs-Begriff.
Der Blick und die Bewertung sagen mehr über mich aus, als über das Objekt, das ich betrachte. So schreibt Hilal:
"Wenn hässlich bedeutet, alt, krank und ungeliebt zu sein, dann hassen wir nicht wirklich die Hässlichen, sondern fürchten unsere eigene Vergänglichkeit, Zerbrechlichkeit und Einsamkeit."
Und etwa 30 Seiten weiter schreibt sie folgerichtig:
"Spätestens durch Alter, Krankheit und Behinderung, die jedem Körper begegnen werden, müssen wir alle erkennen, wie unzuverlässig und untreu die Schönheit ist, sie wird uns verlassen."
Sollten wir die Hässlichkeit nicht vielmehr umarmen? Hässlichkeit erschüttert existenziell, fragt nach der Bedeutung und dem Wert des Lebens. Um verletzlich zu sein, muss man Teile von sich preisgeben, Teile, die womöglich hässlich sind oder uns abhängig machen von anderen.
Das Hässlichste, was wir der Bibliothek der Bibel entnehmen können, ist das, was wir als Gute Botschaft selbst bezeichnen... Vielleicht führt uns nun diese Überlegung zu einem Knackpunkt. Was kann es Hässlicheres als das Evangelium geben? Was kann es Hässlicheres geben, als dass ein Gott zum Menschen wird und peinlich, nackt den scheinbaren Siegern des Weltsystems der Römer in einer derartigen Lächerlichkeit ausgeliefert wird und kläglich stirbt, während die Soldaten um sein letztes Kleid würfeln.
"Es ist vollbracht" ist jener Ausspruch des Sieges der Hässlichkeit über unseren herrischen Blick der Schönheit. Ja, der begehrende Blick nach Schönheit kann ganz schön herrisch sein.
"Menschlich gefasste Schönheit löst Besitzfantasien aus, so Susan Sontag in ihrem Essay 'Über die Schönheit'."
Ganz im Gegenteil begegnen wir im Evangelium einem Gott, der vollkommen von seinem Besitzanspruch eines Herrschers absieht und mit einem närrischen Esel, statt eines stattlich schönen, prächtigen Pferdes in Jerusalem eintrifft.
Schon hier wird das vorweggenommen, was im Kreuz vollendet wird: Die Umkehrung aller Werte - wo Schwäche zu Stärke wird und ein gänzlich neuer Herrschaftstypus entsteht.
Wenn Paulus von der Torheit des Kreuzes spricht, dann spricht er davon, dass das Kreuz dem Toren nicht hässlich genug ist.
Erst wenn wir wirklich verstehen, wie hässlich das Kreuz ist, welchen Schmerz Gott selbst leidet, können wir die Schönheit Gottes daraus funkelnd erhaschen.
Erst in der Hässlichkeit verstehen wir einen Lichtblick, was Schönheit bedeuten kann - Wenn Gott zum Zeitpunkt der Kreuzigung zum Kleinsten wird, ist er doch just im selben Moment das Großartigste.
Statt Schönheit könnte man auch das Wort Großartigkeit nutzen. Großartig wird man nicht durch angeborenes Aussehen, sondern durch seine Erfahrungen. Der großartige Körper bei Mia Mingus ist vor allem ein Körper, der behindert wird und mit Behinderung lebt und trotzdem oder gerade deshalb beeindruckt.
Es gibt nichts Beeindruckenderes, als dass Gott am Kreuz stirbt. Wir treffen auf die hässlichste Hässlichkeit, die kleinste Bedeutsamkeit auf die schönste Schönheit und die großartigste Großartigkeit.
Hässlichkeit erschüttert existenziell, fragt nach der Bedeutung und dem Wert des Lebens, so auch das Kreuz. Es fragt nach dem Wert des Lebens, es fragt danach, was wir ausschließen und was wir umarmen und warum, wir das tun. Wenn wir unsere Alten pflegen, dann wissen wir, worum es geht - Unschöne Körper pflegen ist wahre Liebe -
"Wir sollten das Hässliche auch respektieren lernen, weil es uns zu erkennen gibt, wie wir andere nicht fühlen lassen wollen", schreibt Hilal.
Erst in der Begegnung mit der Hässlichkeit entfaltet sich wahre Liebe, Hingabe und Großartigkeit - und ich bin versucht, diese drei Worte mit Schönheit in eine Gleichung zu bringen. Schön ist, was liebend, hingebungsvoll und großartig ist - Man könnte auch das Dreiergespann Glaube, Hoffnung und Liebe in diese Gleichung bringen und diese drei großen umfassend christlichen Begriffe in den Schönheitsgedanken einpropfen. Wenn dem so ist, dann kann Schönheit uns doch retten.